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Marktschwärmer: Auf einem Weg bei vielen Bauern einkaufen

Abholstelle der Marktschwärmerei in Beckum / Direct Marketing for Farmers and Food Manufacturers Marktschwaermerei in Beckum , 1.4.2021, Foto: Robert B. Fishman

Beckum/Berlin. Amazon und andere Internetkonzerne verkaufen inzwischen auch Lebensmittel im Netz. Du kannst allerdings auch online mit ein paar Klicks bei mehreren Bäuerinnen und Bauern in Deiner Nachbarschaft einkaufen. Die Landwirt:innen liefern gleichzeitig zum vereinbarten Übergabeort. Dort holt man sich dann seinen kompletten Einkauf ab: frisch, regional und meist auch „Bio“. Seit Beginn der Pandemie ist die Nachfrage nochmal deutlich gestiegen. Allein in den beiden vergangenen Jahren haben in Deutschland 75 Marktschwärmereien eröffnet.

 Schweineglück

Landwirt Ansgar Becker vor der Sandfort und seine Familie halten auf ihrem Hof Milchkühe und Schweine. Das meiste Futter bauen sie selbst an. Ihre Schweine haben nach dem Stallumbau mehr Platz. Wo früher 250 Tiere lebten, breiten sich jetzt 70 aus. Einige grunzen draußen in der Frühlingssonne wohlig vor sich hin. „Schauen Sie, wie sie im Stroh rumtollen und spielen“, schwärmt Ansgar Becker vor der Sandfort. „Sie fühlen sich sauwohl. Manchmal“, schwärmt der Bauer, „stehen wir hier, gucken uns das an und sind glücklich.“ 

Doch das Schweineglück ist teuer. Mehr Platz für die Tiere kostet mehr Geld, das der Handel nicht bezahlt. Deshalb setzen immer mehr Landwirte auf Direktvermarktung. Sie verkaufen ihre Produkte am Handel vorbei zu deutlich höheren Preisen direkt an die Verbraucherinnen und Verbraucher. 

Markt per Mausklick

Die Sandforts haben sich dazu der Online-Direktvermarktungsplattform Marktschwärmerei angeschlossen. Jeden Freitag packen Ansgar und seine Frau Verena die Waren zusammen, die die Kundinnen und Kunden online bestellt haben. Nachmittags fahren sie die Pakete dann in eine ehemalige Pizzeria im nahen Städtchen Beckum am Rande des Münsterlands. Jeder Kunde hat bei der Bestellung im Internet eine Nummer bekommen. Mitarbeiterinnen sortieren das Fleisch, Obst, Gemüse, Marmeladengläser und all die anderen bestellten Waren nach diesen Nummern in Kartons.

So findet jede:r sofort sein oder ihr Paket. Die Corona-Pandemie hat das Verfahren verändert. Die Bäuerinnen und Bauern in der Verteilstelle bringt jedem Kunden sein Paket nach draußen. Auch das klappt wie am Schnürchen.

Erst alles verkaufen, dann schlachten

Marktschwärmereien wir die in Beckum gibt es inzwischen überall in Deutschland. Gestartet ist das Konzept vor 10 Jahren in Frankreich unter dem Titel „La Ruche, qui dit oui“, „der Bienenstock, der ja sagt“. Die Gründer wollten Bauern mit Verbraucher zusammen bringen und am Handel vorbei regionale Wirtschaftskreisläufe stärken.

Mit kurzen Transportwegen und dem direkten Kontakt zwischen Erzeuger:innen und Konsument:innen leisten die Marktschwärmereien auch einen Beitrag zu einer nachhaltigeren, umweltfreundlicheren Landwirtschaft  – und gegen die Lebensmittelverschwendung: „Ich schlachte meine Kuh erst, wenn alle Teile verkauft sind“, erklärt Heike Zeller einen Vorteil der Direktvermarktung. Die Betriebswirtin und Soziologin forscht an der Fachhochschule Weihenstephan zu Direktvermarktung in der Landwirtschaft. Bäuerinnen und Bauern, die ihre Ware direkt an die Endverbraucher verkaufen, produzieren nicht auf Halde. Die Produkte landen nicht im Lebensmittelhandel, wo sie unterwegs oder im Ladenregal schlecht werden können. Hinzu kommen die teils absurden Vorschriften des Handels, der zum Beispiel zu klein, zu krumm oder zu groß geratenes Gemüse gar nicht erst abnimmt.

Bäuerinnen fotografieren ihr Gemüse

Um die Präsentation ihrer Produkte kümmern sich die Erzeugerinnen und Erzeuger selbst. Vor der Sandort hat anfangs ihre Leckereien selbst auf einem Tisch einzeln mit dem Handy fotografiert. Für eine professionelle Präsentation empfiehlt sie ihren Kolleginnen und Kollegen dennoch einen Profi – oder mindestens jemanden, „der das kann“.

Die Corona-Pandemie hat den Marktschwärmereien einen Schub gegeben. Die Initiative in Beckum ist schon ein paar Monate nach ihrer Gründung eine der erfolgreichsten in Deutschland. Sie zählt inzwischen 920 Kunden und Lieferanten. Rund 220 bestellen regelmäßig. Landesweit haben die inzwischen rund 130 Marktschwärmereien ihren Umsatz 2020 gegenüber dem Vorjahr um 150 % gesteigert, also mehr als verdoppelt. 

Die Wochenmärkte florieren ebenfalls. Die Marktschwärmer sehen sich als deren Ergänzung. Sie bedienen Berufstätige, die vormittags nicht einkaufen gehen können. Die Abholungen finden in Beckum wie in den anderen Marktschwärmereien abends statt. „Wir sind ein Abendmarkt“, sagt die Mit-Gastgeberin und Landwirtin Elisabeth Sprenker in Beckum. Mit den Umsätzen der Marktschwärmerei ist sie trotz der Mehrarbeit fürs Vorbereiten und Verpacken zufrieden. Ihr Kollege Ansgar Becker von der Sandfort freut sich, dass ihn die Direktvermarktung vom Preisdruck des Einzelhandels zumindest ein Stück weit befreit. „Wir Landwirte müssen wieder lernen, unsere Produkte selbst zu vermarkten“, ergänzt der Bauer. Manchmal schmerze das, aber „es macht auch Spaß“.

Info:

Die erste Marktschwärmerei entstand 2011 in Frankreich unter dem Titel „La Ruche qui dit oui“ („Der Bienenstock, der ja sagt“). Inzwischen gibt es Marktschwärmereien auch in Deutschland, Belgien, Italien, Spanien und weiteren Ländern. Europaweit erwirtschaften sie nach eigenen Angaben einen Jahresumsatz von 100 Millionen Euro, davon ein Zehntel in Deutschland.  

Vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie steigt die Nachfrage. 2020 legte der Umsatz um 120 Prozent zu. Seit März 2020 hätten allein in Deutschland 67 neue Schwärmereien eröffnet und damit das Angebot verdoppelt. Sie beliefern regelmäßig rund 14.000 Haushalte. 900 weitere Landwirt:inn:en und handwerklichen Betriebe hätten sich dem Netzwerk neu angeschlossen. Im Juli 2021 meldete die deutsche Marktschwärmer-Zentrale in Berlin 151 Marktschwärmereien, fast drei Mal so viele wie 2018 (62). Beliefert werden sie von 2396 Erzeugern (2018: 878).

Frankreich / Saarland:

Rund 15 Landwirtinnen und Landwirte beliefern die Schwärmerei im Bahnhof von Forbach bei Saarbrücken . Einige von ihnen sprechen Deutsch. Im Programm haben sie fast alles – von Gemüse über Rindfleisch, Geflügel, Eier und sogar Haushaltswaren, alles aus einem Umkreis von höchstens 60 Kilometern und überwiegend aus Bio-Anbau. 

Weitere französische Marktschwärmereien gibt es grenznah in 26 Orten der lothringischen Départements Moselle (57) und Meurthe et Moselle (54) 

Belgien:

In Belgien gibt es 140 Ruches, also Marktschwärmereien, die ihre Waren aus einem Umkreis von jeweils nur 28 Kilometern beziehen. 

Schweiz: 

Noch lokaler ist das Angebot in der Schweiz. Dort kommen die Erzeuger aus einem Umkreis von nur zwölf Kilometern zur jeweiligen Marktschwärmerei. Nah an der deutschen Grenze liegt die Schwärmerei in der Markthalle von Basel  die auch einen Lieferdienst hat.  

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Geschrieben von Robert B. Fishman

freier Autor, Journalist, Reporter (Radio und Printmedien), Fotograf, Workshop-Trainer, Moderator und Reiseleiter

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