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Richtig Rechnen: Die wahren Kosten unserer Lebensmittel

Melken einer künstlichen Kuh auf dem NRW-Tag in Bielefeld, Foto: Robert B. Fishman, 29.6.2014

Freiburg/Br. Billig ist teuer. Das gilt vor allem für Lebensmittel. Die Preise an der Supermarktkasse verschweigen einen Großteil der Kosten für unsere Ernährung. Die zahlen wir alle: mit unseren Steuern, unseren Wasser- und Müllgebühren und vielen anderen Rechnungen. Allein die Folgen des Klimawandels kosten jetzt schon Milliarden.

Die Schweine- und Gülleflut

Die konventionelle Landwirtschaft überdüngt viele Böden mit Mineraldünger und Gülle. Das zu viel an Stickstoff bildet Nitrat, das ins Grundwasser sickert. Die Wasserwerke müssen immer tiefer bohren, um an einigermaßen sauberes Trinkwasser zu kommen. Bald sind die Ressourcen aufgebraucht. Deutschland drohen für die hohe Nitratbelastung des Wassers jeden Monat mehr als 800.000 Euro Strafe an die Europäische Union. Trotzdem gehen Massentierhaltung und Gülleflut weiter.In den letzten 20 Jahren hat sich Deutschland vom Schweinefleischimporteur zum größten Exporteur gewandelt – mit Milliarden-Subventionen aus dem Staatssäckel. Jedes Jahr werden on Deutschland 60 Millionen Schweine geschlachtet. 13 Millionen landen auf dem Müllhaufen.

Hinzu kommen die Rückstände von Pflanzen“schutz“mitteln im Essen, die Verschlechterung der überlasteten Böden, der Energieaufwand für die Herstellung von Kunstdünger und viele andere Faktoren, die Umwelt und Klima belasten. 

Die Landwirtschaft kostet  jedes Jahr 2,1 Billionen US-Dollar

Allein die ökologischen Folgekosten unserer Landwirtschaft summieren sich nach einer Studie der UN-Welt-Ernährungsorganisation FAO weltweit auf etwa 2,1 Billionen US-Dollar. Hinzu kommen soziale Folgekosten zum Beispiel für die Behandlung von Menschen, die sich mit Pestiziden vergiftet haben. Nach Schätzung der Stiftung Soil and More aus den Niederlanden sterben jedes Jahr 20.000 bis 340.000 Farmarbeiter an Vergiftungen durch Pflanzenschutzmittel. 1 bis 5 Millionen erkranken daran. 

In einer Studie beziffert die FAO außerdem die sozialen Folgekosten der Landwirtschaft auf weltweit rund 2,7 Billionen US-Dollar pro Jahr. Dabei hat sie noch längst nicht alle Kosten berücksichtigt.

Das will Christian Hiß ändern. Der 59jährige ist auf einem Bauernhof in Südbaden aufgewachsen. Schon in den 50er Jahren haben seine Eltern den Betrieb auf biologisch-dynamische Landwirtschaft umgestellt. Hiß wurde Gärtner und begann, auf dem Nachbargrundstück Gemüse anzubauen. 1995 hat er dort wie die meisten Agrarbetriebe die doppelte Buchhaltung nach dem Handelsgesetzbuch eingeführt und schnell erkannt: „Da stimmt etwas nicht.“

Richtig rechnen

Als Bio-Landwirt investiert er viel Zeit und Geld in den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit, in Misch- statt Monokulturen, wechselnde Fruchtfolgen und Grün-Düngung – also die umweltschonende Bewirtschaftung seines Landes. „Diese Kosten kann ich nicht auf die Preise umlegen“, sagt Hiß. „Die Schere zwischen Kosten und Ertrag öffnete sich.“ So seien seine Gewinne immer weniger geworden.

Wer selbst Dünger produziert oder Leguminose als Zwischenfrüchte anbaut, um dem Boden Stickstoff zuzuführen, zahlt drauf. „Ein Kilogramm Kunstdünger kostet drei Euro, ein Kilo Hornspäne 14 und ein Kilo selbst produzierter Naturdünger 40 Euro“, rechnet Hiß vor.

Kunstdünger werde in großen Mengen unter anderem in Russland und der Ukraine hergestellt. Die Mitarbeiter der dortigen Fabriken könnten von den niedrigen Löhnen kaum oder gar nicht leben. Der horrende Energieverbrauch für die Produktion belastet nicht nur die weltweite Klimabilanz.

Gärtner Hiß, der Social Banking und Finance studiert hat, will all diese Kosten in die Preise für Lebensmittel einrechnen.

Neu ist die Idee nicht. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts suchen Wirtschaftswissenschaftler*innen nach Methoden, diese so genannten externen Kosten in die Bilanzen der Betriebe aufzunehmen, also zu internalisieren. Doch wie viel ist eine gesunde Umwelt wert? Was kostet fruchtbarer Boden, der Wasser aufnehmen und speichern kann und weniger erodiert, als die ausgelaugten Flächen der großen Agrarunternehmen?

Folgekosten in die Preise einrechnen

Um eine genauere Vorstellung zu bekommen, setzt Hiß beim Aufwand an. Er berechnet den Mehraufwand für Bodenpflege und andere nachhaltigere Wirtschaftsweisen der Landwirte. Wer weniger schwere Landmaschinen einsetzt sorgt dafür, dass der Boden luftdurchlässig bleibt und weniger Kleinstlebewesen sterben. Die wiederum lockern das Erdreich auf und erhöhen seinen Nährstoffgehalt. Bauern, die Hecken pflanzen und Wildkräuter blühen lassen, erhalten Lebensräume für Insekten, die Nutzpflanzen bestäuben. All das macht Arbeit und kostet schon deshalb Geld. 

In Freiburg hat Hiß mit einigen Verbündeten die Regionalwert Aktiengesellschaft gegründet. Mit dem Geld der Aktionär*innen kauft diese Bauernhöfe, die sie an Bio-Landwirte verpachtet, beteiligt sich an nachhaltig wirtschaftender Verarbeitung von Lebensmitteln, Handel, Catering und Gastronomie. 

„Wir investieren in die ganze Wertschöpfungskette“, erklärt Hiß. Inzwischen hat er Nachahmer gefunden. Deutschlandweit haben fünf Regionalwert AGs von etwa 3.500 Aktionär*innen rund neun Millionen Euro Stammkapital eingesammelt. Damit haben sie sich unter anderem an zehn Bio-Bauernhöfen beteiligt. Als Rendite verspricht der von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen BaFin genehmigte Wertpapierprospekt „soziale und ökologische Vermögenswerte“ sowie den Erhalt von Bodenfruchtbarkeit und eine artgerechte Tierhaltung. Kaufen können sich die Aktionär*innen davon nichts. Es gibt keine Dividende.

Konzerne machen mit

Trotzdem springen immer mehr große Unternehmen auf. Hiß nennt als Beispiele den Versicherungskonzern Allianz und das Chemieunternehmen BASF. „Auch die großen Wirtschaftsprüfer wie Ernst & Young oder PWC unterstützen Hiß bei der buchhalterischen Erfassung von Leistungen, die Bio-Betriebe für das Allgemeinwohl erbringen. Vier Unternehmen wurden bisher genauer untersucht: Für einen Umsatz von rund 2,8 Millionen Euro erbringen sie einen Zusatzaufwand von etwa 400.000 Euro, der bisher in keiner Bilanz als Ertrag erscheint. Auch das Institut der deutschen Wirtschaftsprüfer IDW habe anerkannt, dass die betriebliche Gewinn- und Verlustrechnung auch nicht-finanzielle Faktoren berücksichtigen müsse.

Unter anderem mit SAP erarbeitet die Regionalwert AG Freiburg Programme zur Erfassung des Mehrwerts, den zum Beispiel Bio-Landwirte durch ihre umweltfreundlichen Anbaumethoden schaffen. Über 120 Kennzahlen aus Ökologie, Soziales und Regionalwirtschaft lassen sich für ein Geschäftsjahr erfassen und berechnen. Dafür verlangt die Regionalwert 500 Euro netto pro Jahr und Betrieb. Die Vorteile: Den Verbraucher*innen könne man zeigen, was Landwirt:innen für das Gemeinwohl leisten. Die Politik kann die Zahlen nutzen, um zum Beispiel die Agrarsubventionen von jährlich rund sechs Milliarden Euro neu zu verteilen. Richtig eingesetzt reiche das Geld, um die Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten. Am 1. Dezember startete die Regionalwert Leistungsrechnung, mit der Bäuerinnen und Bauern den Mehrwert in Euro und Cent ausrechnen können, den sie für die Gesellschaft schaffen

Der vierte Blick

Im Projekt Quarta Vista hat die international aufgestellte Softwareschmiede SAP die Konsortialführung übernommen. Dort entwickeln die Fachleute Methoden, mit denen sich der Beitrag eines Unternehmens zum Gemeinwohl messen und belegen lässt. 

Dr. Joachim Schnitter, SAP-Projektleiter von Quarta Vista, nennt die erste Schwierigkeit: „Viele Werte, die ein Unternehmen schafft oder zerstört, lassen sich kaum oder gar nicht in Zahlen ausdrücken.“ Schon die Frage, wie viele Euro eine Tonne sauberer Luft wert ist, lässt sich kaum beantworten. Selbst mögliche Umwelt- und Klimaschäden lassen sich nur vorausberechnen, wenn man davon ausgeht, dass man diese wieder beheben oder anderweitig ausgleichen kann. Und: Spätere Folgeschäden sind heute oft noch nicht einmal vorhersehbar. Deshalb gehen Schnitter und sein Projekt-Team einen anderen Weg: „Ich frage, welche Risiken wir verringern oder vermeiden, wenn wir uns an dieser oder jener Stelle umwelt- oder sozialverträglicher verhalten“. Risikovermeidung senke die Notwendigkeit, Rückstellungen zu bilden und erhöhe so den Wert eines Unternehmens. 

Mit den CO2-Zertifikaten und der geplanten Pestizid-Abgabe gibt es erste Ansätze, die Verursacher an den Folgekosten ihres Wirtschaftens zu beteiligen. SAP geht davon aus, dass uns „die Zukunft zwingen wird, Unternehmen ökologischer als bisher zu führen“. Darauf will der Konzern vorbereitet sein. Außerdem entstehe hier ein neuer Markt für Software, die die sozialen und ökologischen Auswirkungen eines Betriebes sichtbar macht. Von der Politik ist Schnitter wie viele enttäuscht. „Es fehlen weiterhin klare Vorgaben.“ Auch deshalb gingen nun viele Unternehmen voran.

Rechnet man die Folgekosten mit, ist „Bio“ kaum mehr teurer als „konventionell“

Projekt-Partner Soil and More hat Beispielrechnungen – aufgegliedert unter anderem nach Auswirkung auf Bodenqualität, Artenvielfalt, den einzelnen Menschen, Gesellschaft, Klima und Wasser ins Netz gestellt.

Berücksichtig man nur die Auswirkungen auf die Bodenfruchtbarkeit kostet der Ertrag von einem Hektar Apfelanbau pro Jahr im konventionellen Anbau 1.163 Euro, in Bio-Anbau 254 Euro. Beim CO2-Ausstoß sind es im konventionellen Anbau 3.084 und in der Bio-Landwirtschaft 2.492 Euro.

„Diese versteckten Kosten sind inzwischen so enorm, dass sie die vermeintlich kleinen Preise unserer Lebensmittel schnell verblassen lassen“, schreibt Soil and More. Die Politik könnte das ändern, in dem sie die Verursacher für die Folgeschäden zur Kasse bittet, nur noch nachhaltige Landwirtschaft subventioniert und die Mehrwertsteuer auf Bio-Produkte senkt.

Gärtner und Betriebswirt Christian Hiß sieht sich auf dem richtigen Weg. „Seit mehr als 100 Jahren externalisieren wir die Kosten unseres Wirtschaftens. Die Folgen sehen wir in Waldsterben, Klimawandel und dem Verlust der Bodenfruchtbarkeit.“  Wenn Bauern und Agrarindustrie richtig rechnen, werden vermeintlich billige Lebensmittel aus „konventioneller“ Landwirtschaft sehr teuer oder die Produzenten gehen in die Insolvenz. 

„Buchhaltung“, ergänzen Jan Köpper und Laura Marvelskemper von der GLS Bank, „bildet immer nur die Vergangenheit ab.“ Immer mehr Unternehmen wollten jedoch wissen, wie zukunftsfähig ihr Geschäftsmodell ist. Danach fragen zunehmend auch Investoren und die Öffentlichkeit. Manager sorgen sich um die Reputation ihrer Firmen bei möglichen Kunden und Geldgebern. Christian Hiß macht sich auf den Weg zu seinen Projektpartnern von SAP. Die hätten sein Buch gelesen und schnell verstanden, worum es geht.

Info:

Climate Action Network: Zusammenschluss von Investoren, die nur noch in Unternehmen investieren wollen, die die Pariser Klimaziele einhalten: 

Regionalwert AG Bürgeraktiengesellschaft: https://www.regionalwert-ag.de/

Zur Weiterentwicklung von Berichterstattungsstandards in Richtung Regeneration & „Thriveability“ anstelle von Sustainability: https://www.r3-0.org/

Projekt Quarta Vista, gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Projektträger SAP, Projektpartner Regionalwert u.a.: 

BaFin: „Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken“

Buch: 

„Richtig rechnen“, Christian Hiß, oekom verlag München, 2015

„Soziale Marktwirtschaft ökologisch erneuern“, Ralf Fücks und Thomas Köhler (Hrsg.), Konrad Adenauer Stiftung, Berlin 

„Degrowth zur Einführung“, Matthias Schmelzer und Andrea Vetter, Julius Verlag, Hamburg, 2019

Hinweis: Weil mich das Konzept der Regionalwert AG überzeugt hat unterstütze ich seit 30. Nov. 2020 das Projekt Leistungsrechnung für Landwirtinnen und Landwirte in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Dieser Text ist vor dieser Zusammenarbeit entstanden und deshalb davon unbeeinflusst. Dafür garantiere ich.

Geschrieben von Robert B. Fishman

freier Autor, Journalist, Reporter (Radio und Printmedien), Fotograf, Workshop-Trainer, Moderator und Reiseleiter

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